APA: Sie haben erst vor einigen Jahren begonnen, neben Ihrer Arbeit als Film- und Opernregisseur auch im Sprechtheater Regie zu führen. Was hat zu diesem Schritt geführt?
Philipp Stölzl: Ich habe einen eher komplexen Werdegang hinter mir. Ganz früh habe ich am Theater als Bühnenbildner angefangen und bin mit Mitte zwanzig von der Bühne weg gegangen. Zunächst habe ich Musikvideos produziert und bin dann ins Kino gewechselt. Dabei habe ich, um ehrlich zu sein, eher aus Spaß eine Opernproduktion in der tiefsten ostdeutschen Provinz gemacht, was überraschenderweise zu einem „Zweitberuf“ als Musiktheatermacher führte. In den letzten Jahren habe ich jedoch zunehmend die intensive Arbeit mit Schauspielern vermisst, da diese in Film und Musiktheater nicht in der gleichen Intensität möglich ist.
In der Oper sind alle Emotionen in der Regel bereits vorhanden. Das Streben nach inneren Tiefen hat bei den Proben seine natürlichen Grenzen, da die Sänger sich auf ihre „Hochleistungskunst“ konzentrieren müssen. Im Kino ist der gesamte Prozess so technisch, dass man am Set spielerisch nur kurze Zeitfenster mit den Schauspielenden hat, was oft wenig befriedigend ist. Im Gegensatz dazu hat man beim Schauspiel auf der Bühne die Möglichkeit, mehrere Wochen intensiv mit den Darstellern zu arbeiten, Charaktere und Menschen zu entdecken und zu gestalten. Jeder gute Text, der vielschichtig ist, ermöglicht zudem eine Selbsterkenntnis.
APA: Stand „Liliom“ in diesem Kontext schon lange auf Ihrer Wunschliste?
Stölzl: In den letzten Jahren habe ich im Theater für mich entdeckt, dass mich die lebendigen Charakterstudien und das klassische Erzählen in Figurenbögen besonders faszinieren. Mich interessiert, was man mit den Menschen fühlt, im positiven wie im negativen Sinne. Ironischerweise bin ich am Theater am wenigsten an formalen Aspekten interessiert, obwohl ich im Musiktheater sehr visuell arbeite. „Liliom“ ist ein großartig geschichtetes Stück. Nicht nur die außergewöhnliche Figur des Liliom ist beeindruckend, sondern auch die anderen Charaktere sind kraftvoll geschrieben und enthalten tiefe Abgründe sowie große Sehnsüchte. Das Stück spielt zwar oberflächlich in einem heruntergekommenen Schausteller-Milieu, aber die Figuren sind im Grunde so groß wie in einer griechischen Tragödie.
APA: „Liliom“ wurde hier am Burgtheater zuletzt vor etwa zehn Jahren mit Nicholas Ofczarek in der Titelrolle aufgeführt …
Stölzl: … es ist in der Tat eine Herausforderung, dass so viele bedeutende Schauspieler diese Rolle bereits gespielt haben. Dennoch gibt es meiner Meinung nach gute Gründe, das Stück neu zu interpretieren und zu prüfen, was es uns heute zu sagen hat. Liliom ist eine missratene Hauptfigur, die bei Molnár zwar bereits schattiert und ambivalent gezeichnet ist, aber Molnár behandelt diesen Charakter relativ wohlwollend und lässt ihn nach seinem Tod in einen märchenhaften Himmel aufsteigen, wo ihm sogar eine zweite Chance gewährt wird.
Hier gibt es immer den Unterton, dass man denkt: „Naja, ihm rutscht halt einmal die Hand aus, aber er hat etwas Attraktives an sich, irgendwie sexy in seinem Chauvinismus.“ Man sieht ihm ein wenig nach. Ich glaube jedoch, dass wir heute toxische Beziehungen und missbräuchliches Verhalten anders beurteilen. Unsere Toleranzgrenze ist deutlich niedriger geworden. Deshalb haben wir das Stück von seiner nostalgischen Prater-Dramatik befreit und untersucht, welches Drama, seelische Zerbrochenheit sowie Liebes- und Lebenssehnsüchte darin aufeinanderprallen, und haben versucht, echt in die Figuren einzutauchen und sie als komplexe, gegenwärtige Charaktere darzustellen.
APA: Welche Bedeutung hat es, dass Stefanie Reinsperger die Rolle des Liliom spielt?
Stölzl: Für mich spielt das keine große Rolle. Es ist ein wunderschönes Beispiel dafür, wie Theater ein Raum der Fantasie ist, in dem alles möglich ist. Dass Steffi einen Mann spielt, denkt man, wenn überhaupt, für ein oder zwei Sekunden nach, und dann ist es vergessen. Das beschäftigt beim Zuschauen nicht.
APA: Cross-Gender-Besetzungen sind in dieser Spielzeit allgemein stark vertreten.
Stölzl: Ich halte es für wichtig, dass wir das Theater in dieser Hinsicht neu denken. Generell ist die Film- und Theaterwelt in sämtlichen Bereichen „weiblicher“ geworden, seit ich angefangen habe, und das tut der Kunst und der Gesellschaft gut.
APA: An der Oper legen Sie gerne Wert auf Opulenz. In welchem Setting spielt Ihre Inszenierung von „Liliom“?
Stölzl: Unser Stück spielt in einer minimalistisch erzählten Peripherie, da die Figuren nicht nur am Rand der Stadt, sondern auch am Rand der Gesellschaft leben. Wir haben eine Art Gstettn aus Gras entworfen, wo die Verlorenheit der Menschen dargestellt wird. Diese Konzentration hilft, dem intimen Kammerspiel in einem großen Raum wie dem Burgtheater den notwendigen Fokus und die Präsenz der Charaktere zu verleihen.
APA: Wie funktioniert das im Himmel?
Stölzl: Den katholischen Himmel bei Molnár mit ewigem Licht und Fegefeuer gibt es bei uns nicht. Wir interpretieren das Stück als realistisch, ohne solche Erlösungsmöglichkeiten oder Reue. Bei uns gibt es eine Art abstrakten Jenseitsbegriff und zwei eher schlecht gelaunte Engel.
APA: Werden Sie sich nach der Premiere wieder mehr auf Film, Oper oder Theater konzentrieren?
Stölzl: Ich werde in den kommenden Jahren tatsächlich verstärkt aufs Theater setzen, da es mich künstlerisch sehr erfüllt. Die Oper und das Kino werden jedoch sicher auch weiterhin Bestand haben, vielleicht etwas weniger intensiv. Ich habe gerade eine Fortsetzung von „Der Medicus“ gedreht, die ich nächstes Jahr zuerst fertigstellen muss.
(Das Gespräch führte Sonja Harter/APA)
(S E R V I C E – „Liliom“ von Ferenc Molnár im Burgtheater, Deutsch von Terézia Mora. Premiere am 6. Dezember, 19.30 Uhr. Regie und Bühne: Philipp Stölzl, Kostüme: Kathi Maurer, Licht: Michael Hofer, Musik: Ingo Ludwig Frenzel. Mit u.a. Stefanie Reinsperger, Norman Hacker, Tilman Tuppy, Maresi Riegner, Zeynep Buraç und Stefko Hanushevsky. Nächste Termine: 8., 18. und 25. Dezember sowie am 12., 18. und 24. Jänner.)
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ist interessiert er sich für regionale Nachrichten und Geschichten aus den Bezirken. Er besucht regelmäßig Veranstaltungen vor Ort und berichtet über Neuheiten und spannende Nachrichten auch aus Ihrer Region und Ihrer Nähe. Privat ist er gerne auf Tanz-Veranstaltungen aktiv und sportlich aktiv.