Über 200 Jahre Beamtengeschichte der Habsburger-Monarchie schlummern in den Hof- und Staatshandbüchern – doch bislang sind die digitalisierten Dokumente nicht durchsuchbar. Ein interdisziplinäres Forschungsteam der Universität Graz will das nun ändern: Mithilfe künstlicher Intelligenz wird der sogenannte „Schematismus“ entschlüsselt und für die Wissenschaft nutzbar gemacht.
GRAZ/WIEN. Wer gehörte zum Hofstaat Maria Theresias? Welche Beamten waren im Kriegs- und Marine-Ministerium von 1805 beschäftigt? Oder wie viele Personen gehörten dem Obersten Rechnungshof unter Kaiser Franz-Josef an? Dies sind nur einige Fragen, die Historiker und Forscher mit einem gigantischen Datenschatz aus der Zeit der Habsburger-Monarchie beantworten möchten. Über 200.000 Personen, die zwischen 1702 und 1918 in kaiserlichen Diensten standen, sind in den historischen Hof- und Staatshandbüchern – dem sogenannten „Schematismus“ – verzeichnet. Trotz der digitalen Verfügbarkeit sind diese Dokumente für die Forschung nur schwer nutzbar, da sie bislang nicht durchsuchbar sind. Ein interdisziplinäres Team unter der Leitung der Universität Graz hat sich die Aufgabe gestellt, diese Daten mittels künstlicher Intelligenz zugänglich zu machen.
Eine Quelle mit Geschichte
Der Schematismus diente als unverzichtbares Nachschlagewerk für Geschäftsleute, Behörden und Beamte. Er listete Namen, Funktionen und häufig auch Wohnadressen von Staatsbediensteten auf – von Hofbäckern und Apothekern bis hin zu hochrangigen Offizieren der Kriegsmarine. Historiker Wolfgang Göderle, dessen Projekt am Institut für Digitale Geisteswissenschaften angesiedelt ist, erklärt: „Rund 2000 Individuen waren in der ersten Ausgabe aufgelistet, in der letzten rekordverdächtigen 113.000.“ Ab den 1860er Jahren tauchten zunehmend Frauen in den Verzeichnissen auf, ein Spiegel gesellschaftlicher Veränderungen und Fortschritte der damaligen Zeit.
„Es war ein Nachschlagewerk für alle, die geschäftliche Nähe zu den Hofangelegenheiten suchten“, erklärt Göderle. „Zunächst von privaten Verlegern veröffentlicht, übernahm der Staat zu Beginn des 19. Jahrhunderts die Herausgeberschaft.“ Dies zeigt, wie eng verwoben staatliche Strukturen mit dem gesellschaftlichen Leben waren.
Von handschriftlichen Scans zur durchsuchbaren Datenbank
Trotz der bereits digitalisierten Dokumente ist eine systematische Analyse bislang nicht möglich, da die Vielzahl an handschriftlichen und gedruckten Einträgen sich über 150.000 Seiten erstreckt. Herkömmliche Texterkennungssoftware stößt hier an ihre Grenzen.
Hier setzt das Team um Göderle an. Mithilfe von Künstlicher Intelligenz wird das System in der Lage sein, Namen, Titel, Berufe und Adressen automatisch zu identifizieren und korrekt zuzuordnen, trotz der unterschiedlichen Schriftarten und Formate aus zwei Jahrhunderten. „Das ist eine große Herausforderung, weil sich die Struktur der Einträge über die Jahre stark verändert hat“, so Göderle.
Zusammen mit Experten wie David Fleischhacker (Institut für Geschichte, Uni Graz) und Roman Kern (Institute of Human-Centred Computing, TU Graz) wird ein Verfahren entwickelt, das nicht nur eine Volltextsuche ermöglicht, sondern auch komplexe Analysen wie Karrierewege und Netzwerke zwischen den Beamten. Es wird auch untersucht, wie sich die soziale Zusammensetzung der Verwaltung im Lauf der Zeit verändert hat.
Digitale Revolution für die Geschichtsforschung
Das Projekt wird vom Wissenschaftsfonds FWF mit 1,6 Millionen Euro finanziert. Bis 2030 soll eine öffentliche Datenbank entstehen, die Forschenden und historisch Interessierten kostenfrei zur Verfügung steht. Dies wird eine zentrale Quelle zur Verwaltungsgeschichte der Habsburger-Monarchie erstmals systematisch erschließen und modernste Technologie nutzen.
„Die Zusammenstellung ist eine maßgebliche Quelle zur kaiserlichen Verwaltung und macht die Entstehung des Beamtenapparats nachvollziehbar. Sie dokumentiert die institutionelle Entwicklung des Habsburger-Reiches und spiegelt die Entstehung des Mittelstands wider. Selbst unsere heutige Verwaltung basiert auf Elementen, die noch aus der Monarchie stammen – nicht nur in Österreich, sondern auch in den Nachfolgestaaten wie Slowenien oder Tschechien“, betont Göderle.
Auch interessant:
Med Uni Graz sucht „Delir“-Erfolgsgeschichten
Durchwachsener Start in die erste Woche
Der ideale Nistkasten für Meisen und Co.